Mittwoch, 16. September 2015

Leseprobe EISKALTER PLAN



Kapitel 6

Hermann Wagner
So könnte es gewesen sein …

Hermann steht nackt vor dem Badezimmerspiegel und mustert sein Äußeres: blasser Körper, noch feucht von
der Dusche, eine Haut, die seine magere Gestalt in Falten umschließt wie ein Anzug, den er zwei Nummern
zu groß gekauft hat. Muttermale übersäen seinen Körper wie schlampig angenähte Knöpfe. Garn ragt aus
ihnen empor, harte Borsten, die im Laufe der Jahre zugenommen haben wie Ungeziefer. Er hört den Lärm
im Erdgeschoss. Die Musik ist leise, aber sie hat vergessen, ihre Schuhe auszuziehen, ihre Tanzschritte
sind ungeschickt. Wenn sie ihren Tanz für ihn aufführt, schaut er sie voller Bewunderung an, als sei sie
die beste Tänzerin der Welt. Dann ruft er „Bravo“ und klatscht übermäßig laut in die Hände. Es irritiert ihn,
dass sie kein Talent hat und keine Fortschritte macht, obwohl sie die Tanzschritte täglich übt. Kinder sollten
geschmeidige Gelenke haben und mühelos einem Rhythmus folgen können, da sie noch nicht durch Scham oder Bewusstsein gehemmt werden.
Sie nicht. Sie rudert mit ihren Armen, bewegt ihren Kopf auf eine lächerliche Art und zieht die Knie beim
Tanz zu stark nach oben. Ihre Hüften sind stocksteif, ihr Zwerchfell bewegt sich nicht. Sie schafft es, sich
konsequent gegen den Rhythmus der Musik zu bewegen.
Immer ein wenig zu spät, wie eine mechanische Puppe, deren Batterien zur Neige gehen. Ihre Augen
sind halb geschlossen, die Pupillen durch ihre zittern den Augenlider gerade zu sehen – wie der Ausdruck
einer Blinden. Ihren schmalen Mund hält sie leicht geöffnet, von Popstars mit monströs aufgeblasenen Silikonlippen kopiert. Er möchte sie anbrüllen, dass sie mit ihrem lächerlichen Tanz aufhören soll, aber das hat
sie nicht verdient. Sie verdient einen Applaus und ein Bravo. Er ist ihr größter Fan. Wenn er sie nicht bewundert, wird es niemand tun.
„Noch einmal“, flüstert Hermann, während er sich im Spiegel betrachtet, den Körper mit den Muttermalen
und der weißen, schlaffen Haut, aus deren Poren jetzt trotz seiner Nacktheit der Schweiß ausbricht.
Seine Therapeutin meint, er müsse an seinem Selbstwertgefühl arbeiten. Sie schiebt seinen Selbsthass auf
seine Jugend zurück, auf eine lieblose Mutter und einen Vater, der nie da war. Er hat seine Mutter seit
zehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist eine dumme Frau mit sinnlosen Weltanschauungen, basierend auf
Angst und einer chronischen Unwissenheit, und sie verdient den Tod. Aber in einem Punkt hat sie recht
behalten: Er ist unfähig, für nichts gut. Sein Selbstbild entspricht der Realität, dafür muss er sich bei seiner
Mutter bedanken.
Langsam wächst seine Erektion. Diesen Teil seines Körpers kann er nicht ansehen. Zu eklig, zu widerlich.
Der fleischgewordene Beweis für seine Schwäche.
Welche Art von Mann wäre er wohl ohne diesen Ekel, ohne dieses ständige Gefühl von Unsauberkeit, das ihn
zwingt, sich mindestens dreimal am Tag zu duschen und sich mit einem Seil zu geißeln, das er für diesen
Zweck gekauft hat? Seine Therapeutin scheint dies nicht verstehen zu wollen.
Er zieht eine Jogginghose und ein übergroßes T-Shirt an. Die Jeans und das Hemd, das er bei seiner Ankunft getragen hat, stopft er in seine Tasche. Er nimmt ein Handtuch aus dem Regal und wischt damit den
Boden, obwohl er weiß, dass er bald wieder duschen wird. Danach hängt er das Handtuch zum Trocknen
auf den Wäscheständer.
Er kämmt seine Haare mit dem Kamm ihrer Mutter, eine Hündin, ein Emporkömmling, mit irgendeinem
Job bei der Bank, der zu gut bezahlt wird. Er sieht die Verachtung in ihren Augen, auch wenn sie freundlich
lächelt und in jedem Satz seinen Namen nennt, als wolle sie einer innigen Verbundenheit Nachdruck verleihen.
„Hermann, der Kühlschrank ist voll, iss, wonach dir ist.“ – „Hermann, wir wollen doch nicht, dass
unsere Tochter fernsieht.“ – „Hermann, ich versuche, um sechs Uhr zu Hause zu sein, aber du wirst es mir
nicht übel nehmen, wenn ich mich verspäte.“ Hermann, wir sind dicke Freunde, deshalb zahle ich dir einen Mindestlohn, während ich nicht weiß, wofür sonst ich meinen lächerlichen Stundenlohn, außer für unnötige Geschenke und Markenkleidung für meine Tochter, ausgeben soll. Sie sieht sich selbst als moderne Frau, sie hat ein männliches Kindermädchen.
Der Vater des Mädchens ist kaum anwesend. Hermann hat ihn in achtzehn Monaten vielleicht zweimal
gesehen. Der Vater spricht ihn nicht mit seinem Namen an, vermutlich, weil er ihn nicht kennt, und er
sieht ihn erstaunt an, als frage er sich, was Hermann in seinem Haus macht. Das Kind hat die Augen des
Vaters. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie denselben harten Ausdruck bekommen, bedingt durch die genetische Vererbung und verstärkt durch die Abwesenheit des Vaters – sie kann ihm später dafür danken.
Zweifellos wird das Kind, trotz mäßiger Intelligenz, mithilfe teurer Nachhilfestunden ein Gymnasium besuchen und danach eine Wirtschaftsschule, die sie nur mit Mühe abschließen wird. Danach dienen die Kontakte
von Mama und Papa der Förderung ihrer Karriere, und erst dann wird ihr dieser kalte, einschüchternde
Augenausdruck nützlich sein. „Ich bin ein Sieger und du bist ein Verlierer“, sagt dieser Blick.
Hermann hat den Hunger in den Augen der Mutter gesehen – den gleichen Hunger, den er in den Augen
der Tochter sieht, die für die Liebe des Vaters alles tun wird, vielleicht sogar für ihn töten. Hermann erkennt
das Muster. Der Vater entzieht Mutter und Tochter die Liebe. Wenn sie nach ihr lechzen, schenkt er ihnen ein
wenig Aufmerksamkeit, eine winzige Berührung, einen emotionslosen Kuss, gerade genug Nahrung, um
sie leben zu lassen, aber nicht genug, um sie zu befriedigen.
Die Tochter wird eines Tages nie mehr Schwäche zeigen, keine Liebe mehr einfordern, weder von
ihrem Vater noch von jemand anderem, und sie wird diese Kälte einsetzen, um zu überleben, nicht ahnend,
dass sie damit ihrem Vater nur einen Dienst erweist, die letzte Ehre „Ich bin wie du.“
Während der Vater eine wichtige Beute jagt und die Mutter sich benimmt, als sei sie auch eine Jägerin,
pflückt Hermann die Beeren in ihrem Garten und wacht über den Nachwuchs. Tiefer kann er, was ihre
Nahrungskette anbelangt, nicht sinken. Sie brauchen ihn, um ihre gesellschaftliche Stellung zu behaupten.
Nur deshalb legt der Vater ihm fürs Beerenpflücken ein Trinkgeld auf den Tisch. Der Vater und die Mutter
betrachten die Tochter als ihren kostbarsten Besitz und glauben, es sei Liebe.
Inzwischen wacht Hermann über die Tochter. Er mag keine Hunde, aber Kinder mag er durchaus. Oh ja, Kinder
mag er sehr. Er wird nicht verhindern können, dass aus ihr die skrupellose Erwachsene wird, aber er kann
ihr zumindest etwas geben. Noch ist sie klein und angewiesen auf einen Vater und eine Mutter ohne Empathie.
Es wird Zeit, nach unten zu gehen. Er kann sich nicht retten, aber er kann den Versuch unternehmen, sie zu retten, obwohl seine Bemühungen immer zum Scheitern verurteilt sind. Liebe ist schließlich das Einzige,
wonach sie sich sehnt, wie jedes andere Kind.
Hermann weiß, dass die Liebe ihn danach zur Dusche eilen lässt. Er hat sich zwar geschworen, dass es das
letzte Mal sein wird, aber für wen? Weil er in den Augen der Gesellschaft ein guter Mensch sein möchte.
Weil er ein Feigling ist und wie der Rest der Menschheit sich nach Anerkennung sehnt. Papa und Mama lieben
mich. Mama, ich bin nicht so böse wie du glaubst.
Das Mädchen geht ihm nicht aus dem Kopf. Er ist in Gedanken bei ihr, dem Kind, das im Erdgeschoss seinen
grauenhaften Tanz aufführt. Er muss seine abscheulichen Gefühle überwinden. Das Richtige tun.
„Komm jetzt“, sagt er zu seinem Spiegelbild, das ihn weniger ängstigt, jetzt, wo er nicht mehr nackt ist.
Er geht barfuß die Treppe hinunter und bleibt an der Tür des Wohnzimmers stehen. Die Musik erreicht sein
rechtes Ohr, das er an die Tür gelegt hat, aber das Kind tanzt nicht mehr. Er drückt die Türklinke nach unten
und zögert, zwei Atemzüge lang.
„Du kannst es“, sagt er leise. „Ich kann es!“ Sie sitzt auf dem Boden mit ausgestreckten Beinen
und geradem Rücken, mühelos, wie das nur Kinder können. Ihr weißes Kleid mit den langen Ärmeln – die
Farbe verleiht ihrem Teint eine krankhafte Blässe – hat sich hochgeschoben und er sieht ihre geblümte
Strumpfhose, die Konturen ihres Höschens. Sie hat dunkle Ränder unter den Augen, die heute noch schön sind, ziemlich groß und rund in dem schmalen Gesicht.
Später werden sie blass und zusammengekniffen, wie die Augen eines Fuchses, ihrem Gesicht einen
unangenehmen Ausdruck verleihen. Sie blickt ihn mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst an.
„Ich bin es“, sagt er und geht in die Knie.
Sie zieht ihre Beine an und rutscht einige Meter zurück.
Grob nimmt sie ihren Arm zurück, als er versucht, sie zu streicheln. Er atmet tief ein und wieder
aus. Er deutet ihr Verhalten nicht als Ablehnung.
Wenn sie sich ihm widersetzt, dann nur, weil menschliche Wärme sie mehr erschreckt, mehr als Kälte. Er erinnert sich noch gut an jene seltenen Momente, in denen seine Mutter ihn streicheln wollte und er zurückschreckte, weil er wusste, dass der Arm, der ihn liebkoste, jeden Moment mit Wucht zuschlagen
konnte. Einsamkeit ist sicherer als Zuneigung. Er kennt den Mechanismus wie kein anderer. Er muss
sich weiter um das Kind kümmern. Er kann nicht erwarten,
dass sie sich von einem Tag auf den anderen öffnet, um sich dem Unbekannten hinzugeben. Er wird
ihr zeigen, dass sie sich auf ihn verlassen kann und nicht befürchten muss, dass er sie eines Tages im Stich
lässt. Für ihn ist es zu spät, er kann nicht ohne Angst kapitulieren. Er muss sich bestrafen, weil er tief in seinem Herzen glaubt, dass er die Liebe nicht verdient.
Er berührt sie wieder, sehr vorsichtig. Er streichelt sanft ihren Arm. Wieder sieht sie zu ihm auf, und ihm
wird bewusst, dass er zum Äußersten gehen wird. Es ist der dominante Blick der Mutter. Wenn sie ihn eines
Tages mit dem Gesichtsausdruck des Vaters ansieht, weiß er, dass seine Arbeit erledigt ist. Dann ist sie bereit
für die Jagd und wird ihn verleugnen. Der Verlierer.
Der Trottel, der für sie gekocht hat.
So weit ist es noch nicht. Er zieht sie aus und sie lässt sich schlaff hängen, wie eine Puppe. Sie muss wissen,
dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die sie lieben und die sie lieben kann. Er fragt sich, wie viele Opfer
er noch aufbringen muss, bis sie das versteht. Ich kann dich nicht retten, sagt eine Stimme in seinem Kopf,
aber ich gebe mein Bestes, Schätzchen. Es verwirrt ihn, dass er einen Teil ihrer reinen Kinderseele
schützen möchte. Rational weiß er, dass sie den Vater in sich trägt, wie seine Mutter ein Teil von
ihm war. Sie soll ein Teil von ihm sein, leicht beschädigt und auf Dauer gänzlich verloren. Sie wirkt so unschuldig, wenn sie tanzt, aber sie zeigt heute schon Züge, die sie später unerträglich werden lassen. Sie
wird dafür bestraft, mit einem Körper, der sich nach allen Seiten wölbt und sich nicht mehr in ein weißes
Kleidchen und eine Strumpfhose mit Blümchenmuster pressen lässt. Ihre farblosen Knospen werden zu
monströsen braunen Brustwarzen anschwellen wie gebratene Eier. Die kleinen blonden Haare an den Beinen
werden sich in drahtige, dunkle Borsten verwandeln, die sich nur mit einem Rasiermesser bändigen lassen, wie das borstige Gestrüpp zwischen ihren Beinen… Nicht auszumalen, dass eines Tages ihre Verdorbenheit wie eine unterirdische Giftquelle an die Oberfläche kommen wird.
Plötzlich ist er in Eile. Er weiß, dass er handeln muss, die finsteren Gedanken werden ihn sonst beherrschen.
Er kann dem Kind die perversen Pläne von Mutter Natur nicht zum Vorwurf machen, das wäre unfair. Mit einem Ruck schließt er im Wohnzimmer die Vorhänge, stellt die Musik lauter, damit er und das Kind draußen nicht zu hören sind.
Ohne sie anzusehen, legt er seine Kleider ab und schenkt ihr seine Nacktheit. Er legt sie auf die Couch,
wo sie sich nur kurz widersetzt, erschrocken über seine Haut auf der ihren, von der Intimität, von der
nur sie weiß, wenn er sich ihr nähert. Sie schreit wie ein wildes Tier, das zum ersten Mal berührt wird. Er
legt eine Hand auf ihren Mund, um sie zu beruhigen.
Als sein liebevoller Blick ihr offenbar zu viel wird und sie die Augen schließt, um sich dem Unvermeidlichen
hinzugeben, spürt er zum ersten Mal einen Hauch von Zufriedenheit aufkommen. Er weiß, er kann dem Kind
geben, was es braucht. Und wenn nötig, wird er das immer wieder tun, bis sie eines Tages nicht mehr für
ihn tanzen muss, weil sie sich seiner Hingabe sicher ist.

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Montag, 14. September 2015

Der Kreislauf der Angst durch Krieg und Fremdenhass



©Astrid Korten
Eine Geschichte, die den Kreislauf der Angst durch Krieg und Fremdenhass skizziert.


Wann war der richtige Moment? Heute, an einem Montagmorgen? Warum nicht. Vor elf Jahren war er immerhin in Syrien an dem wohl verfluchtesten Wochentag aller Zeiten zur Welt gekommen; an einem erbärmlichen Montagmorgen. Während seine Mutter nach einer anstrengenden Geburt das Bett hatte hüten müssen, hatte sein Vater ihn nach seinem Großonkel Mustafa benannt. Aus ihm war Mustafa Ayan geworden.
Mustafa. Er hasste den Namen, seit er sprechen konnte, nein, er war kein Auserwählter wie sein Onkel. In seinen Augen waren seine Zeugung im Kriegsgetümmel, selbst das Wachstum im Mutterleib, seine Geburt zwischen den Trümmern und ohne ärztliche Hilfe ein Desaster und ein schlechtes Omen gewesen. Nahezu seit seinem ersten Schrei war da diese Stimme in ihm, die ihn Nacht für Nacht an das Fallen der Bomben und das Bersten von Stein erinnerte, diese lähmende Angst, in ihm wachhielt. Später – die Flucht nach Deutschland – in einem Schiffsrumpf voller Leichen, das kenternde Boot, die Toten am Strand, seine überflüssige Rettung.
Dennoch, wer wollte behaupten, dass aus ihm nicht auch ein Sonntagskind werden konnte? Menschen waren doch imstande, sich zu ändern. In Syrien war er nicht in der Lage gewesen, sich zu ändern. Er hatte viele Monate in einem imaginären Flugzeug hoch über den Wolken seine Runden gedreht. Nur so hielt er Distanz zu den Kriegsgräueln in seinem Land. Erst heute – in diesem Wohnheim wollte er endlich den Sprung mit dem Fallschirm in Richtung Erde wagen.
Was hatte er in den vergangenen Monaten alles versäumt.
„Du bis elf“, murrte die Hintergrundstimme in seinem Kopf.
„Verdammt noch mal!“, flüsterte er. Er war kein Baby mehr, sondern ein erwachsener Junge, der die Flucht nach Deutschland allein überstanden hatte. Wovor hatte er sich in den vergangenen Monaten nur so gefürchtet? Er hatte das Grauen erlebt, war mittendrin gewesen. Er hatte zerfetzte Menschen gesehen, Babys, die in Brunnen geworfen wurden und zerrissene Körperteile, die wie Unrat auf einem rot verfärbten Pflaster verteilt lagen; in der Ferne immer wieder Sirenengeheul und fallende Bomben. Deutschland sei sicher, hatte sein Vater ihm gesagt.
Allmählich dämmerte es ihm, warum er in dem Wohnheim mit dem Sprung ins Leben so lang gewartet hatte. Er hatte sich nicht immer so stark gefühlt wie heute. Die Flucht hatte ihn geschwächt. Das musste er sich an diesem Montagmorgen eingestehen. Er hatte bislang niemanden gehabt, der ihn beschützte, hinter dem er sich hätte verstecken können. Dieser Gedanke hatte ihm in diesem fremden Land stets mächtig viel Angst eingeflößt.
Wag den Sprung. Du wirst es nicht bereuen.
Aber tief in ihm war diese jämmerliche Hintergrundstimme, die ihm immer wieder Du kannst es nicht, du wagst es nicht zuraunte; begleitet von dem absurden Klang einer Geigensaite und einem Hintergrundchor aus den quälenden Hilferufen der Frauen und Kinder aus kenternden Booten, umgeben von Unrat und brutaler Gewalt, geplagt von Hunger und Durst.
Mit aller Kraft hatte er versucht, Back-Vocal, wie er seinen inneren Peiniger nannte, zum Schweigen zu bringen, doch der konnte seinen Mund nicht halten. Back-Vocal war ein Widerling, der ihn jede Nacht quälte, obwohl er jetzt in Sicherheit war. Dem würde er es zeigen.
Mustafa hatte seit Längerem ausführlich über seine Veränderung gegrübelt. Anfangs würde es sich wohl nicht so gut anfühlen. Er hatte sich immer unauffällig verhalten. Vielleicht wirkte er nach dem Sprung nicht überzeugend oder unwirklich, aber das Fremdsein würde mit der Zeit gewiss nachlassen. Doch ehe ein Mensch sich änderte, musste er wohl zuerst seine Umstände ändern. Der Bruch sollte radikal sein – und endgültig.
In seinem imaginären Flugzeug, hoch über den Wolken, hatte er so oft davon geträumt und seine Metamorphose aus großer Höhe vor Augen gehabt. In der Vergangenheit war ihm dabei immer schwindlig geworden. Seltsamerweise verspürte er heute keine Angst, obwohl immer neue weiße Streifen mit rasender Geschwindigkeit an ihm vorbeiwehten. Und der Wind! Er zog ihn an sich, saugte, pfiff und protestierte.
Er malte sich aus, dass sein altes Ich mit ängstlichem Blick zusah, wie er sich voller Zuversicht auf die Tür des Flugzeuges zubewegte. Diese Vorstellung mochte er. Wenn er an den verängstigten Mustafa dachte, hatte er fast Mitleid mit ihm. Aber nur fast!
Er wollte sich nicht mehr mit dem elfjährigen Flüchtling Mustafa beschäftigen. Er war jetzt ein anderer Mensch. Mustafa ist tot!
Die Wahrheit war, dass er nichts mehr von ihm wissen wollte.
„Tatsächlich?“, meldete sich Back-Vocal zu Wort.
„Ja!“
„Sicher?“
„Ja, du Arsch.“
„Hey, Vorsicht! Ich behalte dich im Auge.“
Er war bereit, an diesem Montagmorgen den Sprung zu wagen. Unten vor dem Wohnheim warteten die Zuschauer auf seinen freien Fall. Er wollte sie nicht länger warten lassen.
Spring, Mustafa, spring!, meinte er, sie in der Tiefe rufen zu hören.
Er sprang.
Mustafa starb.
Azmi – der Entschlossene wurde geboren.

*

Der Freitag war ein launischer Sommertag gewesen. Das Wetter, sich ständig verändernd, jagte Wolken aus Blau und Violett über die Stadt. Im August rechnete man in der Regel nicht mit derartigen Witterungen.
Azmi und seine Freunde hatten auf der Bank vor dem Wohnheim ihre brüchigen und melancholischen Lieder ertönen lassen, die ihr Echo im Tschilpen der Spatzen und in den plötzlichen Ausbrüchen der amourösen Drosseln in den Bäumen am Straßenrand vor dem Wohnheim fanden.
Da Azmis Freunde Jugendliche seines eigenen Schlags waren, Flüchtlinge, die in dem Ort ein zweites Zuhause gefunden hatten, ließen sie mit alten Geschichten aus ihrer Heimat ihre Vergangenheit aufleben und wandten sich dann wie selbstverständlich der Gegenwart zu.
Heute hatte Azmi nur mit halbem Ohr zugehört. Die Sehnsucht nach seiner Familie und seiner Heimat war an diesem Tag besonders stark. Bald würden auch sie nach Deutschland kommen.
Er starrte aus dem Fenster und führte Selbstgespräche. Der Mond strahlte am Nachthimmel, wenn auch hin und wieder von Wolkenfetzen verdunkelt, die der kräftige Ostwind wieder fortjagte.
Fünf dunkel gekleidete Personen tauchten jäh aus den Schatten auf und näherten sich dem Wohnheim. Sie hielten brennende Fackeln in den Händen.
Azmi hatte in Syrien oft eine Fackel aus einer Holzlatte gemacht, wenn das Licht durch einen feindlichen Angriff ausgefallen war.
Hier im Haus gab es Licht.
Er musste ihnen Bescheid sagen. Als er das Fenster schließen wollte, geschah es.
Die Männer schleuderten die brennenden Fackeln aufs Dach und durch geöffnete Fenster ins Wohnheim.
Azmi stürmte aus seinem Zimmer, das er mit fünf anderen Jungen teilte, und rannte um sein Leben. In letzter Sekunde entkam er einem brennenden Balken, der neben ihm auf den Boden knallte.
Azmi stieg wieder in sein imaginäres Flugzeug, wurde zu Mustafa, dem verängstigten Flüchtlingsjunge aus Syrien, der nicht mehr an den Frieden glaubte, der nicht wusste, ob er jemals wieder den Mut aufbringen würde, aus seinem imaginärem Flugzeug zu springen – um zu überleben.
Er kreiste mit Freund Back-Vocal über das übrig gebliebene schwarze Balkengerippe und die zertrümmerten Ziegel des Wohnheims.
„Wie eine klaffende Wunde“, meldete sich Back-Vocal. „Deutschland ist nicht sicher. Dein Vater hat dich angelogen.“
Azmi nickte und weinte.
Einst war dies sein Garten gewesen. Einst war dieses Gebüsch sein Busch, war diese Wildnis seine Wiese, auf der er gespielt hatte und die nun mit der grauen Asche des zerstörten Wohnheims überzogen war. Der Krieg hatte in seiner Heimat weder Gnade noch Gerechtigkeit gekannt, in diesem Land hatte der Hass diesem Garten seine Schönheit genommen. Der kleine Zaun, der den Garten umgeben hatte, war verschwunden, das schmiedeeisernen, verrosteten Tor, das aus seinen Angeln gebrochen war, lag auf dem Rasen zwischen den Trümmern. Niemand würde mehr kommen, um zurückzuschneiden, was blühen wollte - die Büsche, die Bäume, sogar das Gras.
„Krieg…", flüsterte Mustafa. "Kommt“.
Die Kinder, die neben ihm auf dem Boden hockten, nickten und stiegen in Mustafas Flugzeug ein.